Der Kuss – und seine Folgen
Umso bedauerlicher finde ich es daher, dass dies in der Rückschau völlig in den Schatten der Diskussion um das Fehlverhalten eines Funktionärs gestellt worden ist. Das eines Mannes, noch dazu. Das haben sich die Spielerinnen nicht verdient. Trotzdem ist diese Debatte wichtig, und sie muss in aller Klarheit und Gründlichkeit geführt werden.
Fast noch schockierender als der Fauxpas von Luis Rubiales bei der Siegerinnenehrung selbst ist für mich dessen Uneinsichtigkeit und die Penetranz, mit der er sich an seinen gut dotierten Funktionärsstühlen festklammert. Sein peinlicher Versuch, sich selbst als Opfer einer feministischen Hetzjagd hinzustellen, lässt das typische Muster einer Täter-Opfer-Umkehr und eine sehr verzerrte Wahrnehmung erkennen. Dass ihm von der spanischen Regierungsspitze über die Präsidentenkommission des eigenen Verbandes bis hin zum Sprecher des UNO-Generalsekretärs der Rücktritt nahegelegt wird, scheint ihn ebenso wenig zum Einlenken zu bewegen wie ein Streik der Spielerinnen, solange er im Amt ist, und Disziplinarverfahren seitens der FIFA und der spanischen Sportbehörde.
Die Sportwelt sollte jedoch nicht in dieselbe Falle tappen, wie es die Kirche im Umgang mit Missbrauch lange getan hat und zu einem guten Teil noch immer tut, nämlich zu glauben, dass mit dem Entfernen von vermeintlichen schwarzen Schafen der Fall erledigt sei. Hier wie dort ist es auch ein strukturelles Problem, dem man sich schonungslos stellen muss. So sieht es auch UNO-Sprecher Stephane Dujarric: „Es gibt weiterhin ein kritisches Problem des Sexismus im Sport.“ Rubiales ist da nur eine Spitze des Eisbergs. Vieles geschieht in den Untiefen der Verborgenheit, in den Abgründen des Unaussprechlichen, unter dem Deckmantel fataler Abhängigkeitsstrukturen. Möge die gegenwärtige Diskussion ein konstruktiver Beitrag zu einem Klimawandel – im Bewusstsein wie im strukturellen Gefüge des Sports – sein, der diesen Eisberg zum Schmelzen bringt.
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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