Die Kunst, einfach zu leben
Wenig überraschend war hingegen der souveräne Abfahrtssieg von Marco Odermatt, der eine nahezu perfekte Fahrt ablieferte, die er selbst im Ziel mit einem lauten Schrei der Erleichterung quittierte. Armin Assinger inspirierte sie - frei nach Leonardo da Vinci - zu dem schönen Kommentar: „Einfachheit ist die höchste Form der Finesse.“ Die ideale Linie ist eben meist recht unspektakulär und die schnellste Fahrt zugleich jene, die aussieht, als gäbe es nichts Leichteres.
„Simplify Your Life“ ist ein Leitsatz vieler Lebens-Coaches, der nicht nur auf der Abfahrtspiste Gültigkeit hat. In unseren hoch komplexen, immer unübersichtlicher und undurchschaubarer werdenden Lebensvollzügen fühlen sich viele Menschen heillos überfordert und gleichen einem Schifahrer, der wild mit den Armen rudernd um seine Linie kämpft. Weit abgedriftet von der Spur, die uns den Wurzeln und Quellen unseres Seins entlangführt, werden wir im zur Seite geschobenen Tiefschnee der Sachzwänge, Banalitäten und Nebensächlichkeiten eingebremst. Dann braucht es größte Kraftanstrengungen, um sich zurückzukämpfen und wieder Fahrt aufzunehmen. Statt auf Zug zu kommen und entschlossen auf sein Ziel zustreben zu können, fühlt sich das Leben an, als wäre man von einer Lawine überrollt worden und man verliert die Kontrolle darüber. Sehr leicht passiert es dann, dass man beim nächstbesten Hindernis einfädelt, es nicht mehr ins nächste Tor schafft oder zu Sturz kommt.
Bei vielen macht sich deshalb eine tiefe Sehnsucht nach mehr Einfachheit, Echtheit und Ursprünglichkeit bemerkbar. Doch wie finde ich zu dieser höchsten Stufe der Finesse? Marco Odermatt wird in vielen Trainingsfahrten daran gearbeitet haben, Fehler auszumerzen, die Einstellungen des Materials zu optimieren und seine Technik zu verfeinern. Das Zauberwort beim Schifahren ist die perfekte Mittellage, also die Ausbalanciertheit in allen Bewegungsabläufen. Ebenso braucht es in anderen Belangen die Fähigkeit zu unterscheiden, was wesentlich und unwesentlich ist, was mein Leben einfacher und was es komplizierter macht, was Kräfte fließen lässt und was bremst. Der Prophet Jesaja im Alten Testament der Bibel fragt: „Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht?“ (Jes 55,2) Auch er beobachtet, dass Menschen falsche Ziele verfolgen, dass sie keine Balance finden und ihre Kräfte ins Leere laufen. Das Einfache ist nicht leicht zu erreichen, es ist eine hohe Kunst.
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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