Der Kuss
„Wir brauchen mehr weibliche Trainer“, forderte auch Englands Teamchefin Sarina Wiegman nach dem Turnier.
Gewonnen haben schließlich die Spanierinnen, deren großer Moment des Triumphes durch einen Kuss, den der spanische Verbandspräsident Luis Rubiales der Spielerin Jennifer Hermoso auf den Mund gedrückt hat, einen sehr unappetitlichen Beigeschmack bekommen hat. Danach räumte er ein, dass er einen Fehler gemacht habe, der jedoch „spontan und ohne jede böse Absicht“ geschehen sei: „Hier haben wir alle es als etwas Natürliches, Normales betrachtet.“ Gerade darin liegt eben das Problem, und wenn ein Funktionär sich auf der Bühne der Siegerinnenehrung vor den Augen der ganzen Welt so verhält, dann stellt sich natürlich die Frage, welche Umgangsformen abseits der Öffentlichkeit, in der Kabine oder im Umfeld des Trainings gepflogen werden. Und es gibt da noch die Vorgeschichte der Kritik an Trainer Jorge Vilda. Nach der EM im Vorjahr sind 15 Spielerinnen aus Protest gegen seinen Führungsstil vom Nationalteam zurückgetreten. Auch in ihrem Statement war übergriffiges Verhalten ein Thema. Rubiales hat sich hinter seinen Trainer gestellt – ohne die Vorwürfe untersuchen zu lassen.
Wie wenig Problembewusstsein und wie viel Chauvinismus hier noch immer herrscht, zeigt auch eine Wortspende von Karl-Heinz Rummenigge, immerhin Mitglied des UEFA-Exekutivkomitees, in der er Rubiales verteidigt und sein Verhalten angesichts der großen Emotionen „absolut okay“ findet. Die ARD-Sportjournalistin Nora Hespers hingegen bringt es in einem lesenswerten Kommentar auf den Punkt: „Hier hat ein Mann in einer Machtposition eine Frau in aller Öffentlichkeit genötigt, sich küssen zu lassen. Und das hat er gemacht, weil er genau weiß, dass das keine Konsequenzen für ihn haben wird.“ Es gehe nicht um den Kuss, sondern um das Machtgefälle, das ihn zu einem Akt der Gewalt mache. Jennifer Hermoso hat nun in einer gemeinsam mit der spanischen Spielergewerkschaft abgegebenen Erklärung gefordert, „dass beispielhafte Maßnahmen ergriffen werden, um Fußballerinnen vor Handlungen zu schützen, die sie für inakzeptabel halten.“
Halbherzige Entschuldigungen reichen nicht aus. Es müssen Strukturen geschaffen werden, die jeglicher Form von Übergriffen, Missbrauch und Gewalt – sei es sexuell, psychisch oder körperlich – effektiv entgegenwirken.
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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