Die Versuchung des Zaubertranks
Viele Athleten seien einfach weggerannt, als sie von der Anwesenheit der Kontrolleure erfahren hatten. Andere hätten sich bei der Siegerehrung nicht mehr blicken lassen, um ihre Medaillen abzuholen. Ein Hürdenläufer sei nach der Ziellinie gleich weitergelaufen und direkt nach Hause gerannt. Die Freude über den Staatsmeistertitel hielt sich bei Lalit Kumar freilich in Grenzen. „Als Athlet fühle ich mich sehr verletzt und im Stich gelassen“, sagte er gegenüber einer Zeitung.
Der kuriose Vorfall erinnert mich an „Asterix bei den Olympischen Spielen“, wo der tapfere kleine Gallier entspannt zum Gewinn des ersehnten Lorbeerkranzes läuft, weil alle Konkurrenten der Versuchung, vom Zaubertrank des Druiden Miraculix zu trinken, nicht widerstehen konnten. Aber es steckt doch mehr dahinter als eine launige Episode am Rande des sportlichen Weltgeschehens. Indien soll neben Russland und China zu den Ländern mit den meisten Doping-Vergehen gehören. Das verwundert niemanden. Doch ist die Situation bei uns tatsächlich besser? Und trifft das Problem nur den Hochleistungssport, wie es oft suggeriert wird?
Am kommenden Sonntag findet der Graz-Marathon statt, bei dem wieder an die 10.000 Hobby-Läuferinnen und -Läufer an den Start gehen werden. Dopingkontrollen haben sie nicht zu erwarten, doch gibt es Schätzungen der „Dunkelziffern“, wonach etwa ein Drittel von ihnen dabei leistungssteigernde Substanzen zu sich nehmen. Und das ohne jeden kommerziellen Erfolgsdruck. Für sie geht es allenfalls darum, eine persönliche Bestmarke aufzustellen. Und schon dafür erliegen viele der Versuchung, nach einem Zaubertrank zu greifen.
Mir liegt es fern, hier den mahnenden oder gar anklagenden Zeigefinger zu erheben. Ich möchte eher auf die Scheinheiligkeit hinweisen, die ich in der Dopingdiskussion oft beobachte. Im Sport gibt es klare Regeln und genaue Richtlinien, welche Folgen ein Vergehen dagegen nach sich zieht. Der Sport hat ein hohes Ethos in Bezug auf Fair-Play. Doch wie sieht das in der Arbeitswelt und in anderen Lebensbereichen aus? Wie viele Menschen schlucken Aufputschmittel oder Psychopharmaka, um in ihrem Job zu bestehen und ihren Alltag zu bewältigen? Daran finden wir nichts Verwerfliches, es wird eher sogar als Ausdruck hoher Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit wertgeschätzt. Doch diese „Zaubertränke“ sind ein Vermögen, das wir wie einen Kredit aufnehmen und irgendwann mit Zinsen zurückzahlen müssen. Da sollten wir uns wohl öfter selbst einer Dopingkontrolle unterziehen.
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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