Die österreichische Seele
Ihm als Deutschen muss dabei eine unvoreingenommene Außenwahrnehmung zugestanden werden. Er drückt sich auch vornehm zurückhaltend aus im Vergleich zu Ringel, der einmal sagte, dass das Wort „Minderwertigkeitskomplex“ in Österreich gleichsam zum Volkslied geworden sei.
Nun hat das Fußball-Team des „kleinen“ Österreich, der Schifahrernation mit ihren begrenzten Möglichkeiten, das Ticket zur Europameisterschaft gelöst. Nach einem überzeugenden, wenn auch leider unbelohnt gebliebenen Auftritt gegen Belgien reichte dafür ein mühsam erkämpfter Sieg in Aserbaidschan. Das ist nicht selbstverständlich für ein Land, „dessen Bewohner ständig zwischen rührseliger Unterschätzung und grenzenlosen Grandiositätsgefühlen hin und her schwanken“ – um noch einmal Ringel zu zitieren. Beides ist dem Ziel, in einer gewissen Konstanz optimale Leistungen zu erbringen – Sportler*innen sagen gerne: ihr Potenzial abzurufen – und daran zu wachsen nicht unbedingt förderlich. Beides hilft nicht, um realistisch zu sehen, was ist, und auch nicht, um in den Blick zu nehmen, was sein könnte.
So sagte Rangnick: „Man traut sich Dinge gar nicht zu, weil sie noch nie so gewesen sind. Um größer zu denken, muss man sich bestimmte Dinge erst einmal vorstellen können.“ Es ist also in gewisser Weise eine Glaubensfrage. Der Apostel Paulus sagt: „Stückwerk ist unser Erkennen.“ (1 Kor 13,9) Und im ersten Johannesbrief heißt es: „Jetzt sind wir Kinder Gottes. Doch ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden.“ (1 Joh 3,2) Gewöhnlich werden solche Worte auf das Jenseits, auf die Ewigkeit bezogen. Es trifft aber auch auf unser Leben hier in dieser Welt zu: Was wir einmal sein werden, was wir werden können, welches Potenzial in uns steckt, das wissen wir noch nicht. Aber wir tragen eine Ahnung davon tief in unserer Seele und eine Sehnsucht, die uns drängt, es zur Entfaltung zu bringen. Wenn wir nur groß genug denken …
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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