Das innere Kind
Und die unterschiedliche Ausgangslage der beiden Teams trug das ihre dazu bei. Während Real in der spanischen Liga bereits als Meister feststeht und mit der Saisonbilanz schon vor diesem Spiel mehr als zufrieden sein konnte, war für die Bayern nach der verlorenen Meisterschaft der Titel in der Königsklasse der letzte Strohhalm.
Ähnlich konträr ist die Situation der beiden Trainer. Während Carlo Ancelotti bei den Spaniern fest im Sattel sitzt und als Trainer bereits viermaliger Champions-League-Sieger ist, haben die Münchner schon im Februar bekanntgegeben, Thomas Tuchels Engagement mit Ende der Saison vorzeitig aufzulösen. Der abgebrühte, stoische Italiener zeigte sich vor dem Schlagerspiel voll Euphorie und sagte: „Für Tage wie diesen lebe ich.“ Tuchel hingegen gab seinen Spielern die Parole aus: „Wir müssen uns mit unserem inneren Kind verbinden.“ Solche Spiele seien das, wovon sie als Kinder geträumt hätten. Deshalb sollten sie sich darauf konzentrieren, kindliche Tugenden wie die pure Freude am Spiel, eine unverkrampfte Leichtigkeit und den festen Glauben an die eigene Stärke auf den Platz zu bringen. Der Plan schien aufzugehen – bis zur 88. Minute, als der eben erst eingewechselte Joselu das berüchtigte Real-Finish einläutete und seinem Coach Carlo Ancelotti wieder einen Tag bescherte, für den es sich lohnt zu leben.
Das innere Kind steht für den ursprünglichen Kern des Menschen, für die Fähigkeit, sich ganz an den Augenblick hinzugeben und das Fußballspiel – ungeachtet aller wirtschaftlichen und medialen Begleiterscheinungen, ungeachtet des vollen Stadions und der Erwartungen der Fans – selbstvergessen als Spiel zu betrachten. Ein spielendes Kind agiert nicht planend und berechnend, sondern folgt seinem inneren Impuls. Es denkt nicht darüber nach, ob etwas möglich oder unmöglich ist, sondern tut es einfach. Mit Intuition und Vorstellungskraft erschafft es Wirklichkeit. Deshalb sagt Jesus: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“ (Mt 18,3) Im kindlichen Wesen liegt der göttliche Funke im Menschen verborgen. Wenn es uns gelingt, uns mit unserem inneren Kind zu verbinden, kann dieser Funke seine Kraft entfalten und uns himmlische Momente schenken.
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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